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Übersetzung des Interviews mit Shimizu Sensei in der Oktoberausgabe des japanischen Reisemagazins ‚Longstay‘
Shimizu Kenji, geboren 1940 im Ort Tento in der Präfektur Fukuoka. Mit 12 Jahren Beginn des Judo Trainings bis zum 4. Dan am Kodokan. Studium an der Meiji Universität. Seit 1963 Training als Uchi-Deshi beim Begründer des Aikido, Meister Morihei Ueshiba, Verleihung des hochrangigen 8. Dans. 1970 Gründung des unabhängigen Shimizu Dojos (1982 Umbenennung in Tendokan). Ab 1978 Einladungen zu Aikido Lehrgängen in West-Deutschland, danach auch Reisen zu den verschiedensten Orten weltweit. 2002 Verleihung eines Preises durch das japanische Außenministerium. Ko-Autor des Buches ‚Zen und Aikido‘ (herausgegeben vom Jimbun-Shoin Verlag) zusammen mit dem verstorbenen Professor Shigeo Kamata (Universität Tokyo). Leiter des Tendokan.
‚Für den Meister gibt es keine Form‘ – das ist der Geist des Aikido
Ich möchte den Geist des Budo weltweit verbreiten
Das Treffen mit dem Meister
Vor nun etwa 50 Jahren habe ich mit dem Aikido begonnen. Ein Bekannter bat mich wie folgt: „Ein Mensch, den man den letzten Budoka nennt, hat bereits ein hohes Alter erreicht, daher solltest Du unbedingt eine entsprechende Lehre antreten, und ich wünsche mir, dass Du diese Techniken übernimmst.“ Wie ich hörte, handelte es sich dabei um einen Menschen, dem der Begründer des Judo, Jigoro Kano Sensei, besonderen Respekt zollte. Ich konnte meine Mutter, die das nicht akzeptieren wollte, nicht überzeugen, aber ich gab nicht auf und folgte demjenigen, der mich vorstellen wollte.
Jener Lehrer, bei dem ich in die Lehre gehen wollte, war der Begründer des Aikido, Morihei Ueshiba Sensei (im weiteren O-Sensei genannt), der als letzter Budoka bezeichnet wird. Damals war ich 23 Jahre alt. Zu jener Zeit wurde ich von O-Sensei und auch von vielen anderen Lehrern häufig geworfen, und das war meine Arbeit. Durch das Fallen im Aikido (Ukemi) wird der Körper flexibel, man lernt das Timing beim Ausführen der Techniken, mit anderen Worten das Kokyuu, und man trainiert das ‚Lesen des Partners‘, was im Budo die wichtigste Sache überhaupt ist. Das erfüllt alle eigenen Techniken mit Leben.
Dank des engen Kontaktes im Training mit O-Sensei erhielt ich ungewöhnlicher Weise bereits nach 3 Jahren den 4. Dan. Danach ging ich ohne große Erfahrung zum Unterrichten auch zu Firmen und Universitäten. Zu jener Zeit etablierte Herr Sonao Sonoda (Außenminister und späterer Kabinettspräsident), der in jenen Tagen mit großer Begeisterung ins Dojo kam, im Parlament eine spezielle Aikido Gruppe. Ich wurde gebeten, dort als erster Lehrer zu unterrichten. So unterrichtete ich die Parlamentsmitglieder, die Staatssekretäre, sowie Reporter von Zeitungen und Fernsehen, und als O-Sensei nach 3 Jahren starb, habe ich mich selbständig gemacht.
Es gibt keinen Wettkampf im Aikido
Eine schnelle Antwort auf die Frage, was Aikido ist, ist schwierig, aber der große Unterschied zu anderen Budo Künsten wie Judo oder Kendo und allgemein zu gewöhnlichen Sportarten ist das ‚Fehlen eines Wettkampfes‘. Jeden Tag ausschließlich eine Wiederholung der Formen. Es gibt keine Preise zu gewinnen, es ist ein Training, um sich selbst zu kontrollieren. O-Sensei lehrte uns immer: „Körperkraft ist begrenzt, Ki-Kraft ist unendlich. Lasst uns die Ki-Kraft entfalten. Wir wollen versuchen, die Techniken in dem Gefühl, die Erde zu umfassen, ausführen.“ So hat er uns zugleich ermahnt und ermutigt.
Steht der Wettkampf im Mittelpunkt, so wird der Wettkampf zum täglichen Ziel im Training, steht hingegen das Training im Mittelpunkt, so wird es, anders als bei sportlichen Wettkämpfen, zu einem Training, bei dem nicht der Gegner besiegt werden soll, sondern bei dem wir unser Selbst, das nicht verlieren will, besiegen. Wir geraten außer Atem, verlieren das Interesse am Training und werden auch häufig psychisch schwach, aber wenn wir mit dem Training fortfahren, werden wir erkennen, dass dadurch unser Selbst erheblich stärker wird. Indem wir die Form wieder und wieder ausführen, entsteht eine Technik, aus der die Form unmerklich verschwindet, und somit entstehen freie Bewegungen. Das ist der Grund dafür, dass man Aikido auch als ‚Zen in Bewegung’ bezeichnet. Und ist es nicht so, dass wir darüber hinaus der übrigen Welt die geistige Einstellung vermitteln‚ dass es auf der Meisterstufe keine Form mehr gibt‘?
Hart, weich … . Auch wenn es mehr oder weniger körperliche Unterschiede gibt, wenn wir kontinuierlich trainieren, kann jeder zu menschlicher Reife gelangen. Und das nennen wir lebendiges Aikido. Das ist ein interessanter Aspekt des Aikido, und das ist der Grund dafür, dass auch Frauen und ältere Menschen, die körperlich schwächer sind, sorglos und mit Freude teilnehmen.
Mit anderen Worten, Aikido ist Budo, in dem wir unsere Fähigkeiten gemeinsam weiterentwickeln. Wenn zum Beispiel im Judo der Gegner aus dem Gleichgewicht gerät, wird er mit aller Kraft zu Boden geworfen, nicht wahr. Im Aikido gibt es Wurf-, Hebel- und Haltetechniken, aber man wirft den Gegner nicht wie im Judo mit aller Kraft zu Boden. Wenn Shimizu Sensei bei einer Vorführung den Partner mit ‚Kote gaeshi‘ wirft, bringt er ihn bis kurz vor dem Fallen aus dem Gleichgewicht, aber er führt die Bewegung nicht bis zu einem verletzenden Fall des Partners fort. Das ist nicht notwendig, weil ein einmal aus dem Gleichgewicht gebrachter Körper sich nicht wieder kontrollieren lässt.
Ein weites Merkmal ist, dass das Dojo ein Ort ist, an dem sich jeder vom Kind bis zum alten Menschen und unabhängig vom Geschlecht mit Aikido anfreunden kann. Als ich O-Sensei zum ersten Mal traf, war er bereits 79 Jahre alt, und ich hatte überhaupt noch nie jemanden sehen können, der sich in diesem Alter noch so intensiv und rüstig bewegte und die Ki-Kraft in Perfektion demonstrierte.
O-Sensei schien uns ein einzigartiges, heutzutage kaum noch anzutreffendes Wesen wie ein Eremit zu sein, und wir hatten den Eindruck, dass er aus einer nicht erklärbaren Welt zu uns herabgestiegen war.
Als er sich langsam zurückziehen wollte, wurde mitgeteilt, dass er keine Uchi Deshi mehr aufnehmen wollte, und ich habe als ein letzter Uchi Deshi während meiner 6-jährigen Einschreibung 3 Jahre direkt bei O-Sensei gelernt; man kann gut sagen, dass „ich hoch in der Gunst von O-Sensei stand“.
Die wunderbaren Techniken von Odo
Eines Tages fragte mich O-Sensei vor zahlreichen Schülern einschließlich amtierender Kabinettminister, indem er mit dem Finger auf mich wies: „Aikido beinhaltet die wunderbaren Techniken von Odo. Verstehst Du das?“ Auch nachdem ich die älteren Schüler fragte, wurde mir die Bedeutung dieser Worte noch nicht klar. Aus welchem Jahrhundert diese Sprache auch kommen oder ob sich O-Sensei das ausgedacht haben mochte, wir konnten die ganze Bedeutung nicht verstehen. Weil O-Sensei diese Frage dann auch nicht beantwortete, blieb sie uns allen auch in der folgenden Zeit im Gedächtnis. Was das auch immer dahinter verbergen mochte, wir waren dankbar, und wir verstanden später, dass ‚die wunderbaren Techniken von Odo‘ wohl bedeuteten, dass jemand, auch wenn er klein oder schwach ist, doch eine unglaubliche, riesengroße Kraft entwickeln kann. Das bedeutet, dass wir, wenn wir mit dem gesamten Universum eine Einheit bilden, eine starke geistige Kraft erreichen können.
Es gab den russischen Amateurringer namens Alexander Karelin, der dreimal olympisches Gold gewann und als bester Ringer aller Zeiten gilt. Als er nach seinem Rücktritt einmal zu Besuch nach Japan kam, fragte ein Reporter: „Was ist das Geheimnis Ihrer Kraft?“ Und daraufhin soll er geantwortet haben: „Es ist die Elastizität (Weichheit).“ Alle waren sicherlich überrascht, dieses unerwartete Wort das aus dem Munde des Mannes, der als überaus stark galt, zu hören, aber Menschen, die Budo betreiben, können verstehen, was er gesagt hat.
Wenn der Wind weht, biegen sich die Äste der Weide, nicht wahr. Eine derartige natürliche eigene Körperhaltung ist ideal. Aber wenn überflüssige Kraft ins Spiel kommt, geht das nicht so leicht. Das Weglassen der Körperkraft, oder eben das Abfließen von Kraft ist überhaupt das schwierigste. Ein Weg zum Verständnis ist die Atemtechnik. Mit anderen Worten, es ist die Kontrolle des Atems. Was wir für besonders wichtig erachten, ist die Atmung mit dem Zwerchfell, das ist die Atemkontrolle durch den sogenannten Tanden (Punkt unter dem Nabel), der sich im Zwerchfell befindet und den wir als Körpermittelpunkt fühlen. Wir bewegen den Körper so, dass der Tanden zum Bewegungsmittelpunkt wird. Es entstehen hervorragende Techniken, und der Hakama bewegt sich in einem eleganten Bogen. Ob jemand geschickt ist oder nicht, kann man erkennen, wenn man die Bewegung des Hakamas verfolgt.
Auch Herr Hiroshi Arakawa, der Herrn Sadaharu Oh in der Schlagform (Baseball) unterrichtet (gecoacht) hat, war übrigens ein Aikido Experte und ist auch mir mit großer Freundlichkeit begegnet. Die Schlagtechnik eines Spielers auf einem Fuß (‚Flamingo-Beinschlag‘) hat Herr Arakawa von Mal zu Mal verbessert, um auch das Timing zu berücksichtigen, und man muss das eigentlich als ‚Aiki Schlagtechnik‘ bezeichnen.
Siegen ohne zu kämpfen
Die Zeichen für 合気 (Aiki) bedeuten ‚in Harmonie mit dem Ki‘, literarisch bedeutet es das Erkennen des Kis des Gegners, und das Lesen des Ki ist wichtig. In der heutigen Zeit ist es zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern, engen Freunde, mit dem Vorgesetzten und mit den Kollegen schwierig geworden, ein gutes menschliches Verhältnis aufzubauen. Jemand, der bei mir trainiert, sagte: „Im Aikido braucht man keine Sprache, nicht wahr. Auch wenn wir keine Worte benutzen, können wir miteinander kommunizieren. Mit lebendigem Ki werden die Techniken wiederholt, und ich verstehe, auf welche Weise sich der Partner bewegt.“ Ich war sehr angetan, dass er sagte, dass er während des Trainings die Konversation einstellt. Regelmäßig kommt auch ein sehbehinderter Schüler mit seinem Blindenhund ins Dojo. Auch so ein Mensch kann Aikido betreiben, und er meint auch, dass ihm Aikido Freude bereitet und hervorragend für ihn ist.
Ein wichtiger Aspekt im Aikido ist, zu gewinnen ohne zu kämpfen, zu gewinnen ohne zu streiten. Streiten bedeutet in gewisser Weise zu verlieren. Das bedeutet, man gibt sich eine Blöße. Es wird manchmal in den Büchern der Kriegskünste berichtet, dass Menschen eine ungeheuer blutrünstige und gefährliche Ausstrahlung besaßen, aber was uns betrifft, ist es ganz anders. Wenn uns ein Gegner fürchtet, so bedeutet das, dass wir noch nicht genug trainiert haben. Ein wahrer Meister erzeugt nicht ein Gefühl wie Blutdurst, sicherlich bleibt er mit freundlichem Gesicht gelassen. Weil er Selbstvertrauen besitzt, besteht kein Grund, einen Gegner zu reizen.
Internationaler Kulturaustausch durch Aikido
1978 gab es einen Deutschen, der mein Dojo ausdrücklich um Hilfe bat. Es war ein Mann namens Volker Stenzel, der damals meines Wissens noch ein Diplomat war. Er wohnte noch bis zum letzten Jahr in Japan und arbeitete als Botschafter. Dieser Mann sagte: „Ich möchte unter allen Umständen, dass Sie den Deutschen Aikido beibringen.“ Weil er als Austauschstudent an der Universität Kyoto Erfahrungen gesammelt hatte, sprach er fließend Japanisch. Das war eine Schicksalswendung, und ich reiste zum ersten Mal nach Deutschland, um Aikido zu unterrichten. Heute ist Aikido, mit Deutschland als Mittelpunkt, in Europa schon weit verbreitet, aber der Beginn ist vor allem auf das Treffen mit ihm zurückzuführen. Die menschlichen Verbindungen sind eine wunderbare Sache, nicht wahr? Zu jener Zeit hätte ich nicht geglaubt, dass sich Aikido in diesem Maße im Ausland verbreiten würde. Es gibt noch etwas, das sich von unserem Aikido stark unterscheidet, in einem Bericht wird geschrieben, dass es weltweit etwa 1 Million Aikido Anhänger gibt. Die Schüler in meinen deutschen Dojos trainieren alles ausgesprochen enthusiastisch.
In den Anfangsjahren hat man Aikido wohl mehr als eine Sportart betrachtet. Sogar während meiner Erklärungen bei den Lehrgängen hatten sich einige Teilnehmer beim Absitzen mit dem Ellbogen am Boden abgestützt, oder sich im schlimmsten Fall sogar arrogant verhalten. Viele Male habe ich beim Unterrichten unter anderem darauf hingewiesen, dass 正座 (Seiza – richtig/aufrecht sitzen) eine Basishaltung ist, danach wurde die Sitzhaltung korrekt ausgeführt, und heute ist sie für uns nahezu vorbildlich geworden. Es geschehen auch immer mehr Dinge, die einen Trainer erfreuen.
Um den Menschen im Ausland Aikido zu unterrichten, reisen wir auch heute noch jedes Jahr, im Frühling und im Sommer, jeweils für etwa drei Wochen ins Ausland. Unter den verschiedenen Ländern in Europa sind wir am häufigsten in Deutschland. Im Schwarzwald finden die Lehrgänge in einem staatlichen Leistungszentrum statt, in dem auch Olympiakämpfer trainieren. Wenn wir dort intensiv am Vormittag anderthalb Stunden und am Nachmittag anderthalb Stunden trainieren, dann haben einige der Teilnehmer etwa 1 Woche später so viel abgenommen, dass sie den Gürtel zwei Löcher enger schnallen können.
Mir fällt bei den ausländischen Schülern besonders auf, dass Beruf und Aikido die gleiche Wertigkeit besitzen. Für Japaner hat der Beruf ganz selbstverständlich Priorität, aber bei den Schülern im Ausland hat man den Eindruck, dass sie arbeiten um zu leben, Aikido ist bei ihnen für das eigene Leben unersetzlich geworden. Durch Aikido wird das Leben bereichert mit Mut, Willenskraft und geistiger Stärke, die die Bewegungen des Körpers fördert.
Wir machen nicht etwas Besonderes, sondern wir entwickeln nur ein wenig das Gefühl der Selbsthingabe, und wir bemühen uns, eine gewisse Würde zu erlangen, mit der wir spontan anderen Menschen viel Gutes erweisen können. Das ist das wahre Ziel von Aikido.
© Übersetzt von Ichiro Murata und Dr. Peter Nawrot, 11/2014